Traditionellerweise übernahm früher der älteste Sohn den Hof der Eltern. Damit wurde die Nachfolge auf eine einfache, klare Art geregelt und gleichzeitig die Existenz des Hofs gesichert. Damals machte dies Sinn! Aber wie ist das heute bei Familienunternehmen?
„Es war schon immer klar, dass Fredi, unser Ältester, mal den Betrieb übernehmen wird“. Die Unternehmerfamilie Müller mit vier Kindern ist stolz, dass der Betrieb nun auch in der 3. Generation Richtung Zukunft steuert. Bei einem Anlass wird plötzlich die Frage laut, ob denn keines der anderen Kinder Übernahmeambitionen gehabt hätte? Verständnisloses Kopfschütteln und dann ratloses Schulterzucken – das habe man sich nie überlegt – aber ganz gerecht sei es für die anderen Kinder vielleicht nicht?
Die Gerechtigkeit ist ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft und Kultur. Bereits als Kind wird unser Gerechtigkeitssinn geschärft: durch Strafe und Belohnung lernen wir, was gerecht ist. Gerechtigkeit wird aber oft erst relevant, wenn etwas ungerecht erscheint. Bei der Unternehmerfamilie Müller war dies nie ein Thema, da die Nachfolge nicht als ungerecht empfunden wurde. Die Regel „der Älteste übernimmt den Bauernhof“ (=Firma) hat sich in diesem Fall bewährt.
Wäre es nicht gerechter, wenn jedes der vier Kinder seinen Anteil am Unternehmen erhalten würde? Wie soll das Eigentum am Unternehmen nun verteilt werden? Nach dem Gleichheitsprinzip, Leistungsprinzip oder Bedürfnisprinzip? Mit dem Leistungsprinzip kann sich der Unternehmer Müller beim nächsten Apéro gut erklären: „Fredi hat es sich verdient – und für das Weiterbestehen der Firma ist es auch die beste Lösung“. Besonders in Familienunternehmen lösen derartige Fragestellungen rund um die Unternehmensnachfolge viele Emotionen aus. Was aus emotionaler Sicht als gerecht erscheint, mag aus rationaler Perspektive des Unternehmens nicht immer zweckdienlich sein. Was ist nun gerecht, was ist gerechter? Den langfristigen Unternehmenserfolg sicherzustellen oder die Bedürfnisse aller Familienmitglieder möglichst zu gleichen Teilen zu berücksichtigen? Mit diesem Dilemma sehen sich viele Übergeber von Familienunternehmen konfrontiert.
Wie kann also eine Lösung gefunden werden, die sowohl aus Sicht des Unternehmens zweckmässig ist und gleichzeitig auch von allen Beteiligten als möglichst gerecht empfunden wird? Die Lösung liegt in einem Kompromiss – bei welchem jeder einen teilweisen Verzicht leisten muss. Dies fördert die Akzeptanz von und die Identifikation der einzelnen Familienmitglieder mit der Nachfolgelösung. Diese Identifikation gelingt selbst dann, wenn manche Familienmitglieder mit dem Ergebnis der Nachfolge nicht völlig zufrieden sind. Voraussetzung ist das Wissen um die Unvollkommenheit der Gerechtigkeit einerseits, und andererseits die Nachvollziehbarkeit des Zustandekommens der Nachfolgelösung. Daraus erwächst Respekt gegenüber dem gemeinsam gegangenen, und deshalb «fairen» Weg und das Endergebnis wird als «gerecht» empfunden.
Fazit: Gerechtigkeit ist subjektiv – und die Wertvorstellungen der Familienmitglieder sind so vielfältig wie die Gestaltungsmöglichkeiten der Unternehmensnachfolge. Ist die Wahl eines Nachfolgers nicht bereits so klar wie bei den Müllers, gibt es Möglichkeiten, diesen Prozess zu unterstützen. Viele Unternehmen und Familien in der Nachfolgephase schätzen eine professionelle, bewährte Unterstützung. Denn es ist eine emotionale Zeit für alle Beteiligen. Die Art und Weise der gemeinsamen Bewältigen dieser emotionalen Zeit hat einen grossen Einfluss auf den Ausgang der Nachfolge eines Familienunternehmens.
Das Thema Gerechtigkeit wurde unter www.sgnafo-praxis.ch im Rahmen einer Schrift (Schrift Nr. 10), je einem Arbeitsmittel für VerkäuferInnen und NachfolgerInnen und einem Interview mit Frau Dr. Sonja Kissling aufbereitet.