Blog 06: Wie gerecht ist die Gerechtigkeit?

Tradi­tio­nel­ler­weise übernahm früher der älteste Sohn den Hof der Eltern. Damit wurde die Nachfolge auf eine einfache, klare Art geregelt und gleich­zeitig die Existenz des Hofs gesichert. Damals machte dies Sinn! Aber wie ist das heute bei Familienunternehmen?

„Es war schon immer klar, dass Fredi, unser Ältester, mal den Betrieb übernehmen wird“. Die Unter­neh­mer­fa­milie Müller mit vier Kindern ist stolz, dass der Betrieb nun auch in der 3. Generation Richtung Zukunft steuert. Bei einem Anlass wird plötzlich die Frage laut, ob denn keines der anderen Kinder Übernah­me­am­bi­tionen gehabt hätte? Verständ­nis­loses Kopfschütteln und dann ratloses Schul­ter­zucken – das habe man sich nie überlegt – aber ganz gerecht sei es für die anderen Kinder vielleicht nicht?

Die Gerech­tigkeit ist ein fester Bestandteil unserer Gesell­schaft und Kultur. Bereits als Kind wird unser Gerech­tig­keitssinn geschärft: durch Strafe und Belohnung lernen wir, was gerecht ist. Gerech­tigkeit wird aber oft erst relevant, wenn etwas ungerecht erscheint. Bei der Unter­neh­mer­fa­milie Müller war dies nie ein Thema, da die Nachfolge nicht als ungerecht empfunden wurde. Die Regel „der Älteste übernimmt den Bauernhof“ (=Firma) hat sich in diesem Fall bewährt.

Wäre es nicht gerechter, wenn jedes der vier Kinder seinen Anteil am Unter­nehmen erhalten würde? Wie soll das Eigentum am Unter­nehmen nun verteilt werden? Nach dem Gleich­heits­prinzip, Leistungs­prinzip oder Bedürf­nis­prinzip? Mit dem Leistungs­prinzip kann sich der Unter­nehmer Müller beim nächsten Apéro gut erklären: „Fredi hat es sich verdient – und für das Weiter­be­stehen der Firma ist es auch die beste Lösung“. Besonders in Famili­en­un­ter­nehmen lösen derartige Frage­stel­lungen rund um  die Unternehmens­nach­folge viele Emotionen aus. Was aus emotio­naler Sicht als gerecht erscheint, mag aus ratio­naler Perspektive des Unter­nehmens nicht immer zweck­dienlich sein. Was ist nun gerecht, was ist gerechter? Den langfri­stigen Unter­neh­mens­erfolg sicher­zu­stellen oder die Bedürf­nisse aller Famili­en­mit­glieder möglichst zu gleichen Teilen zu berück­sich­tigen? Mit diesem Dilemma sehen sich viele Übergeber von Famili­en­un­ter­nehmen konfrontiert.

Wie kann also eine Lösung gefunden werden, die sowohl aus Sicht des Unter­nehmens zweck­mässig ist und gleich­zeitig auch von allen Betei­ligten als möglichst gerecht empfunden wird? Die Lösung liegt in einem Kompromiss – bei welchem jeder einen teilweisen Verzicht leisten muss. Dies fördert die Akzeptanz von und die Identi­fi­kation der einzelnen Famili­en­mit­glieder mit der Nachfol­ge­lösung. Diese Identi­fi­kation gelingt selbst dann, wenn manche Famili­en­mit­glieder mit dem Ergebnis der Nachfolge nicht völlig zufrieden sind. Voraus­setzung ist das Wissen um die Unvoll­kom­menheit der Gerech­tigkeit einer­seits, und anderer­seits die Nachvoll­zieh­barkeit des Zustan­de­kommens der Nachfol­ge­lösung. Daraus erwächst Respekt gegenüber dem gemeinsam gegan­genen, und deshalb «fairen» Weg und das Endergebnis wird als «gerecht» empfunden.

Fazit: Gerech­tigkeit ist subjektiv – und die Wertvor­stel­lungen der Famili­en­mit­glieder sind so vielfältig wie die Gestal­tungs­mög­lich­keiten der Unternehmens­nach­folge. Ist die Wahl eines Nachfolgers nicht bereits so klar wie bei den Müllers, gibt es Möglich­keiten, diesen Prozess zu unter­stützen. Viele Unter­nehmen und Familien in der Nachfol­ge­phase schätzen eine profes­sio­nelle, bewährte Unter­stützung. Denn es ist eine emotionale Zeit für alle Betei­ligen. Die Art und Weise der gemein­samen Bewäl­tigen dieser emotio­nalen Zeit hat einen grossen Einfluss auf den Ausgang der Nachfolge eines Familienunternehmens.

Das Thema Gerech­tigkeit wurde unter www.sgnafo-praxis.ch im Rahmen einer Schrift (Schrift Nr. 10), je einem Arbeits­mittel für Verkäu­fe­rInnen und Nachfol­ge­rInnen und einem Interview mit Frau Dr. Sonja Kissling aufbereitet.

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Frank Halter

Frank Halter ist ausgewiesener Nachfolgeexperte, der sich seit vielen Jahren mit Passion für Nachfolgelösungen einsetzt, die Bestand haben und für alle ein Gewinn sein sollen: für das KMU, für die übergebende und die übernehmende Generation. Er hat das St. Galler Nachfolge-Modell mitentwickelt und betreibt die «St. Galler Nachfolge-Praxis», eine unabhängige Plattform für Wissen und Erfahrung rund um das Thema Unternehmensnachfolge.

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